Tag 64 – sechs irre Kilometer durch Paris

Donnerstag, 29.11.2020 / Freitag, 30.11.2020

Nach wenigen Stunden Schlaf wache ich irritiert auf. Ich sortiere meine Gedanken, um zwischen Traumwelt und Realität zu unterscheiden. Die Ankündigung des erneuten Lockdowns in Frankreich ist tatsächlich passiert.

Ich tapse leise über den Flur und höre ein „Good Morning“, Saras bekannte Stimme ertönt aus dem Zimmer gegenüber. Witzelnd erzählt sie mir, dass es komisch war, dass wir nicht im selben Zimmer geschlafen haben. Lachend setze ich mich zu ihr und wir bereden die Geschehnisse des Vorabends.

Mit Colleen und Jerry frühstücken wir gemeinsam und besprechen wie es weitergeht. Ich erzähle ihnen von meiner Idee, die Rückreise auf zwei Tage aufzusplitten.

Heute morgen kann ich meine Zugfahrten endlich buchen, und anschließend setzt sich ein dezentes Gefühl der Erleichterung ein. Mittlerweile habe ich mich mit der Situation abgefunden, die sich über Tage angebahnt hatte. Die Ungewissheit wann genau strengere Regeln eintreten, löste eine gewisse steigende Unruhe in mir aus. Dass ich abbrechen muss, ist natürlich sehr schade. Es war in den letzten Wochen aber auch klar geworden, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde. So fokussiere ich meine Gedanken nun auf mein zu Hause, meine Freunde und Familie und all die zusammenhängenden Dinge, auf die ich mich freue.

Sara und ich mit Katze Ruby

Der Mittag und Nachmittag verfliegen recht schnell, Müdigkeit hängt mir nach. Um 15:30 Uhr ist es dann soweit, ich verabschiede mich von meiner Pilgerfreundin Sara. Sie wird noch eine knappe Woche in Frankreich sein, bis sie nach Kanada zurückfliegt.

Zugfahrt nach Paris

Colleen und Jerry sind so freundlich und bringen mich zum Bahnhof. An der Tankstelle ist erstaunlich viel los und dies kostet uns viele Minuten. Die nächsten 80 Minuten werden ein Spiel gegen die Zeit und mein Stresslevel wird durch ein unschönes Übelkeitsgefühl begleitet. Mein Körper ist Transportmittel nicht mehr gewohnt und reagiert protestierend. Über die kurvigen Landstraßen fahren wir mit Schwung und knappe sieben Minuten vor Abfahrt erreichen wir den Bahnhof in Angoulême. Überschwinglich bedanke mich bei den beiden Engländern, selten habe ich so freundliche Menschen kennen gelernt.

Mit schweren Schritten dank des Rucksacks renne ich über das Gelände und komme am vollen Gleis 2 des Bahnhofs an. Puh, gerade noch pünktlich.

Die 2,5 Stunden Zugfahrt findet mein Magen auch nicht besser und um 19:34 Uhr erreichen wir den Bahnhof Montparnasse in Paris. Mein Hotel ist knappe sechs Kilometer entfernt und ich entschließe mich für eine letzte Miniwanderung. Morgen beginnt der zweite Lockdown, außerdem gibt es um 21 Uhr eine Ausgangssperre, 90 Minuten vor dieser zu erreichen, war wahrsscheinlich nicht die beste Idee.

Die Bars und Restaurants sind vollgepackt mit Menschen, weder dort noch auf den Straßen wird Abstand eingehalten. Ausgelassen unterhalten sich Menschen, die Atmosphäre ist gesellig. Irgendwie ist es ihnen auch nicht zu verdenken, bereits im Frühjahr hatten die Franzosen deutlich strengere Regeln, als wir Deutschen. Jeder möchte die Freiheit nochmal auskosten, bevor es in eine isolierte Zeit geht.

Romantische Stimmung an der Seine

Ich überquere den bekannten Fluss Seine, die Lichter der Stadt in der Dunkelheit des Abends sind wunderschön anzusehen. Die Reflektionen im Wasser ergeben einen romantischen Flair, viele Pärchen sitzen am Ufer.

Der Kontrast ist hart als ich die Brücke verlasse und auf eine Hauptstraße zusteuere. Es beginnt mit einem Motorradfahrer, der auf dem Bürgersteig unterwegs ist und mich fast über den Haufen fährt. Eine Sekunde später realisiere ich, dass ihn die Polizei verfolgt und es deswegen mit irrem Tempo davon rast. Die Straßen sind voll, nur im Schneckentempo geht es voran. Die Stimmung ist angespannt, hupende Autos und genervte Fahrer. Die Fußgängerampeln werden einfach ignoriert. Ein Bulli prallt mit einem Rollerfahrer zusammen, es gibt „nur“ Blechschäden, der laute Rumms hat mich aufschrecken lassen. Mein Stresslevel klettert immer weiter. Für fast zehn Minuten höre ich nur noch laute Sirenen von Feuerwehr, Polizei und Krankenwägen.

Schönes Hotelzimmer

Um 20:57 Uhr erreiche ich endlich mein Hotel, ich bin komplett erschöpft und bin froh über meine Unterkunftswahl. Das Zimmer ist modern eingerichtet.

Eine Dusche und eine kleine Portion gekochte Nudeln (Supermärkte waren zu überfüllt) und ich schlafe in kürzester Zeit ein.

Am nächsten Morgen geht es früh zum nahegelegenen Nordbahnhof von Paris. Die Straßen sind im Gegensatz zum Vorabend sehr leer.

Ich finde mein Gleis sehr schnell und steige in den Zug, der mich nach Deutschland bringen soll. Die Ironie trifft mich schnell, als ich mich an 2014 zurück erinnere. Auf der selben Strecke saß ich damals, um meinen ersten Jakobsweg Camino Frances zu starten.

Einmal umsteigen in Köln und gegen frühen Nachmittag steige ich in der Stadt aus, in der ich vor über zwei Monaten gestartet bin. Hallo Bielefeld.

Von Nieselregen werde ich begrüßt. Sentimental und leichte Trauer mischen sich mit Vorfreude auf mein zu Hause, und so trete ich meine zweiwöchige Quarantäne an.

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