Der Wecker klingelt heute früher, denn eine lange Etappe steht bevor und die Wettervorhersage bereitet mir ein mulmiges Gefühl.

Um 08:00 Uhr trete ich aus dem Haus und der Wind begrüßt mich kalt. Bisher ist es trocken, aber der erste Niederschlag lässt nicht lange auf sich warten. Über weichen Waldboden führt es mich ins nächste Dorf und der zweite Regenschauer setzt sein. Soweit so gut, mein Poncho bleibt vorerst standhaft. Dies ändert sich allerdings rasch, denn der nächste Himmelserguss hält nicht nur Minuten – nein, er hält Stunden an.

Ich kämpfe mich von Ortschaft zu Ortschaft und frage mich, was ich hier eigentlich tue. Es sind 8°C, der Niederschlag ist gleichmäßig, der Wind erbarmungslos. Zwischen den Orten laufe ich auf wenig befahrenen Straßen auf ungeschützten Flächen, die Felder um mich herum abgearbeitet.
Laut brüllend und fluchend setze ich einen Schritt vor den anderen. Mein Poncho bebt unter den Böen, meine Hände und Füße werden abwechselnd taub und wärmen sich schmerzhaft wieder auf – naja, zumindest ein wenig. Die durchdringende Nässe lässt mich frieren und vor einem kleinen Ort finde ich in einer recht großen Hütte Unterschlupf. Den Rucksack und Poncho schnell abgesetzt, umkreise ich erstmal den ovalen überdachten Brunnen.

Wirklich warm wird mir nicht. Was mache ich bloß nur? Bisher habe ich 16Kilometer zurückgelegt, es fehlen aber noch mehr als die Hälfte und leicht verzweifelt überlege ich nach Lösungen. Die kommenden Dörfer sind zu klein für Unterkünfte (sie haben meist nicht einmal Bushaltestellen).
Fieberhaft denke ich nach. Noch nie in meinem Leben war mir so kalt, und in meiner Vorbereitung habe ich über das wichtige und unterschätzte Thema Hypothermie gelesen. Nur der Ansatz einer Unterkühlung ist sehr gefährlich und dem bin ich mir in diesem Moment bibbernd bewusst. Abwarten wäre fatal, also heißt es handeln.
Ich hole meine Zeltunterlage heraus und breite sie auf der dreckigen, steinigen Bank aus. Als nächstes meinen Schlafsack, welchen ich auf dem Plastik ablege. Ich ziehe meine Schuhe, Socken und Leggins (alles ist klitschnass) aus und steige in meinen Schlafsack und setze ich mich auf die Unterlage. Mit meinem Gaskocher wird Wasser erwärmt und in meine Trinkflaschen gefüllt. Die Wärmflaschen und ein Becher heißer Kaffee erzielen Wirkung. Meine Füße werden langsam wärmer und Gefühl kehrt schmerzvoll und kribbelnd zurück.

Die Situation ist absurd, aber wahrscheinlich mehr als erforderlich und wichtig.
Den nächsten Schachzug setze ich geschickt. Das Buchen eines teuren Bed&Breakfast für 2 (!)Nächte, um einen Funken Motivation zurückzugewinnen.
Dann heißt es im Schlafsack warten, denn es regnet und stürmt unerlässig weiter. Meine Hoffnung setzt auf die Wettervorhersage, dass es im Laufe des Nachmittags nachlassen soll.
Meine Schlafleggins und mein zweites Paar Socken fühlen sich wohlig an und in diesen werde ich weiter wandern.
Nach 3 Stunden packe ich alles zusammen und schlüpfe in meine nassen Schuhe. Die Socken ziehen sich in Sekunden voll mit Wasser. Um die Wärme beizubehalten, renne ich um die ovale Wasserstelle in der Hütte. Ich schnappe mir meinen Regenponcho und ziehe diesen wie einen Drachen hinter mir her, um ihn zumindest ansatzweise zu trocknen. Die Absurdität dieser Situation spitzt sich immer weiter zu und bringt eine überaschende Wendung meines Gemüts. Desto komischer ich die Szenerie gestalte, desto mehr verliert sie an Ernsthaftigkeit und Negativität.
Wie ein Torrero in einer großen Arena spiele und springe ich mit dem Poncho umher. Beim Blick aus den glaslosen Fenstern stelle ich fest, dass es wirklich aufgehört hat zu regnen. Die metaphorische Ebene vertauscht die Rollen und in meinem großen, grauen Poncho bin ich nun der Stier. Mit scharrenden, nassen Füßen und großen geweiteten Augen laufe ich zielstrebig los. Zwischendurch nimmt der Gegenwind ordentlich Fahrt auf, ich senke den Kopf – nicht um aufzugeben, sondern um meine großen, sturen Hörner besser auszurichten. Mit eisigem Willen nehme ich 18 Kilometer Anlauf und „spieße“ mein Ziel um 19:30 Uhr auf.
Unfassbar müde, aber furchtbar stolz, wie ich mich selbst aus einer solch unschönen, nicht ganz ungefährlichen Situation befördert habe, komme ich in einer wunderbaren Unterkunft in Joinville an.
Nach einer heißen Dusche falle ich ins bequeme Bett und denke an heute zurück. Die Temperatur ist in wenigen Tagen um über 20°C gefallen. Die heutigen 8°C in Kombination mit Sturmböen und Regen waren eine Grenzerfahrung. Ich habe den krassen Wetterumschwung und seine Folgen unterschätzt bzw. einfach nicht in der Intensität erwartet. Einer der härtesten Wandertage bisher!
Wie ich mittags in meinem Verließ saß, eingesperrt und mit geflochtenen Haar‘ wie Rapunzel. Manchmal hat man Glück, ein Prinz kommt vorbei und rettet einen. Aber in manchen Geschichten muss man sein eigener Held sein. 🙂
Man muss seine Wanderstöcke als Zauberstab einsetzen und mit eisernem Willen und Glauben an sich selbst einen Patronus heraufbeschwören, der so hell und schön ist, dass man aus diesem dunklen Ort ausbrechen kann. Und wenn ich meine Augen schließe, dann weiß ich, dass an dem heutigen Tag mein Patronus die Form eines riesigen starken Stieres hatte.
Dankbar über meine Fantasie und grinsend über so viele Metaphern, falle ich in einen erholsamen Schlaf.