Es ist Donnerstag, der 06.07.2017, und ich habe meinen freien Tag, den ich -viel zu lange- bis zum Mittag im Bett verbringe. Die letzten zwei Wochen waren doch etwas auslaugend und mit gut 100 Arbeitsstunden in den letzten 14 Tagen blieb kaum Zeit für Entspannung. Ich mag meine Arbeit noch immer sehr und deshalb ist das ganze nur halb so schlimm, erfreue mich aber an meiner heutigen Freizeit.
An diesem Tag bin ich nachmittags mit meinen wunderbaren Freunden Janina und Alexis verabredet. Ich bin auf dem Weg von meiner WG in die Innenstadt. Der Himmel ist eher wolkenbedeckt, die Sonne lässt sich an diesem Donnerstag nur selten blicken. Die winterliche Kälte lässt mich leicht frieren. Mit Wintermantel, Mütze und dicken Socken wird mir jedoch schnell warm.
Bevor ich zum vereinbarten Café gehe, bleiben 15 Minuten Zeit. Ich laufe die Straße Courtenay Place entlang, die für ihre zahlreichen Kneipen und Bars bekannt ist und zur Innenstadt führt, bzw. ein Teil von ihr ist.
Dieser Donnerstagnachmittag macht einen unscheinbaren Eindruck, Menschen sind unterwegs und Busse fahren die Straßen auf und ab. Und von einer Sekunde auf die andere ist alles anders.
Ein plötzliches dumpfes, krachendes Geräuch lässt meinen Blick nach rechts zur Straße schauen und ich sehe wie ein junger Mann gut zwei Meter durch die Luft geschleudert, getroffen von einem Bus.
Alles erscheint in Zeitlupe und es ist, als würde die Zeit für einen Herzschlag einfach Stehen bleiben. Keine Sekunde später renne ich los, der leblose Körper liegt mitten auf der Straße – nur ein paar Meter von mir entfernt. Ein anderer Bus kommt kurz vor ihm noch zum Stehen.
Der junge Mann liegt auf dem Bauch mit dem Gesicht auf dem Asphalt. Ich fasse seine Schulter vorsichtig an und versuche ihn anzusprechen – keine Reaktion. Schnell sind andere Menschen zur Hilfe. Eine Frau wählt sofort die Nummer des Rettungsdienstes.
Mit 5-6 anderen Personen versuchen wir dem jungen Mann erste Hilfe zu leisten. Ganz vorsichtig versuchen wir seinen Kopf anzuheben bzw. zu wenden – sein ganzes Gesicht ist voller Blut, welches stark aus seiner Nase und seinem Mund austritt. Der junge Mann fängt an zu atmen, wenn auch sehr, sehr schwer. Er kommt langsam zu Bewusstsein. Wir versuchen ihn zu beruhigen – auf ihn einzureden, dass er liegen bleiben soll, bis der Rettungswagen kommt. Der Mann mit Down-Syndrom ist sichtlich verwirrt, spricht nicht mit uns, ist aber auch nicht aufgebracht. Seine Hand versucht sein blutüberströmtes Gesicht anzufassen, zu realisieren was gerade mit ihm passiert ist – vorsichtig halte ich diese zurück. Irgendjemand hat ein Handtuch, dass wir unter seinen Kopf legen. Ich habe meine Jacke ausgezogen, wie ein paar andere auch – um ihn zu wärmen.
Ein Polizist auf einem Motorrad ist schnell zur Stelle, kurze Zeit später kommt ein Notarztwagen und ein paar weitere Minuten danach trifft der Rettungswagen ein und ich entferne mich ein paar Meter von der Unfallstelle, denn ich kann hier nicht weiterhelfen. Ich treffe auf meine Freundin Janina, die mir erstmal Beistand leistet. Leicht durch den Wind erzähle ich ihr das schreckliche Erlebnis.
Bevor wir gehen, spreche ich noch kurz mit einem der Polizisten. Ich kann aber nicht weiter helfen. Ich habe „nur“ den Aufprall gesehen, nicht was vorher passiert ist.
Mein Blick wandert zum Unfallbus. Die Aufprallstelle ist durch erschreckend große Risse in der Frontscheibe geprägt. Die Straße ist durch den Unfall komplett gesperrt, kein weiteres Durchkommen. Etliche Busse stehen still. Menschen schauen besorgt auf den Ort des Geschehens.
Janina und ich entscheiden uns langsam Richtung Café zu gehen, um Alexis zu treffen. Nicht weil dies wichtiger ist, sondern einfach weil wir nichts weiter machen können, um dem jungen Mann helfen zu können. Er ist in den guten Händen von medizischem Personal, dass darauf verzichten kann, von neugierigen Menschen begutachtet zu werden.
Ein beunruhiges Gefühl begleitet mich durch den Rest des Tages. Es hilft mit meinen Freunden über dieses Unglück zu sprechen.
Am Abend lese ich in einer Online-Zeitung, dass die Unfallperson unter ernsten Umständen im Krankenhaus liegt.
Ich kann gar nicht richtig glauben, was ich heute mit angesehen habe. Das Leben spielt manchmal komisch… wie oft benutze ich den Satz „Du kannst auch über die Straße gehen und von einem Bus überfahren werden.“ Dies in der Realität mit angesehen zu haben, löst ein Gefühl in mir aus, das schwer zu beschreiben ist. Es erinnert mich mit voller Wucht daran, dass das Leben verdammt kurz sein kann.
Wie wichtig es ist, das beste aus unserem Leben zu machen. Mehr positiv zu sein, als negativ. Unsere Zeit mehr fröhlich und lachend zu verbringen. Wege finden, um glücklich zu sein. Mehr Dinge tun, die uns erfüllen und unseren Leidenschaften nachzugehen. Freundlich zu sein – zu unseren Mitmenschen und vorallem aber auch zu uns selbst. Wünsche in Pläne verwandeln. Das beste aus jeder Situation rauszuholen, egal wir furchtbar, nervig oder stressig sie manchmal sein mag. Das Leben in vollen Zügen geniessen – es ist sooooo verdammt wichtig, sich jeden Tag daran zu erinnern.
Ich hoffe stark, dass der junge Mann viel Glück gehabt hat und es ihm bald besser geht. Das Leben ist nicht immer fair und großartig und es fällt schwer die Gründe für Geschehnisse zu finden, aber dies sind die prägenden Momente die wichtige Erfahrungen sind und aus denen wir lernen sollten.